Alternate Arcaria

Übung brauchte natürlich alles, doch ein wenig Theorie würde ihr nicht schaden. Wer wusste schon ob wir nicht getrennt wurden oder ich in eine Situation kam, wo ich es nicht mehr machen konnte. Besser ein bisschen Vorbereitung als gar nichts. Was die Magie anging nickte ich nur, gab keinen Widerspruch. „In Ordnung.“ Ich vertraute ihr das richtig zu machen, was mehr war als sich über manch anderen sagen ließ. Wir bildeten jedenfalls ein ganz gutes Team. „Naja, die haben auch mich mitten in der Wildnis aufgegabelt... parallel zu einer Handelsroute aber dennoch. Wobei ich auch ein paar Tage kaum geschlafen hatte“ Irgendwo hatte ich geahnt dass mir etwas folgte, mich über die Grenzen gepusht weil ein Fehler mit meiner Fähigkeit zu drastische Konsequenzen hätte. Schaffte ich es nicht endete ich nahezu hilflos.

"Man kann wohl schlecht einen von denen fragen.", lachte ich etwas scherzhaft und beendete die Arbeit an der Runenbarriere. "Ich würde ungern längere Zeit hier bleiben, wenn ich ehrlich bin. Wenns nur die Dämonen wären, aber solange auch noch Banditen in den Wäldern umher streifen fühl ich mich nicht wirklich sicher. Wie lange brauchst du für die Vorbereitungen?" Damit meinte ich insbesondere unsere Trinkschläuche und was er noch fertigen wollte, was uns bei der Reise aushelfen würde. Es lag ein komischer Geruch in der Luft. Kein beißender oder sonstige Anzeichen für Verwesung, ich konnte es nicht wirklich zuordnen, weshalb ich es auf den Wald schob. Meine Nase war noch nie so empfindlich gewesen, vielleicht gab es Dinge die nur ein feiner Geruchssinn wahrnahm. Für den Anfang beobachtete ich ihn aber weiterhin, mir an die Schläfe fassend, als würde es mir helfen mich noch mehr zu konzentrieren. Eigentlich lernte ich sehr schnell, aber Theorie in die Praxis umzusetzen war immer schwer. Schließlich ging ich ihm etwas zur Hand, war besser als einfach nur zuzusehen.

„Zwei Tage, drei...“ ich zuckte leicht mit den Schultern. Hing davon ab wie viel Erfolg ich beim Jagen hatte und das sich alles fand was ich brauchte. „Um Banditen mach ich mir weniger Sorgen, eher um wilde Tiere – einen Wolf wird die Barriere kaum aufhalten. Aber falls irgendwas nicht-dämonisches kommt: kletter so schnell und leise es geht auf einen Baum und beweg dich nicht. Die meisten Leute schauen in ihrem Leben zu wenig nach oben und das meiste tierische was uns gefährlich werden könnte kann nicht klettern.“ Ansonsten mussten wir halt sehen nicht zu auffällig zu sein. Ihre Versuche zu helfen nahm ich mit einem Lächeln an, ließ sie machen und korrigierte nur wo es nötig war. Und schließlich hatten wir dann doch eine Art Höhle für uns. Dafür aber noch nichts zu essen.

Ich wischte mir etwas den Schweiß aus dem Gesicht und blickte zufrieden auf unsere neue "Behausung". "Bisher scheint uns noch nichts angegriffen zu haben. Aber gut zu wissen.", bestätigte ich und stand auf, ließ meinen Blick schweifen. Dieser komische Geruch, den ich bemerkt hatte war stärker geworden und obwohl ich ihn nicht erkannte, ließ es meinen Magen etwas knurren. Meine Aura wurde kurz stärker, drehte die Hand, als plötzlich etwas aus dem Unterholz schoss und kurz darauf ein lautes Quieken zu hören war. Eine Wurzel schlängelte elegant den Boden entlang direkt auf uns zu und hielt ergebend ein aufgespießtes Kaninchen Daniel hin. "Abendessen.", grinste ich. Einem anderen Menschen würde ich vermutlich ziemlich Angst machen, nicht nur mit der Brutalität dem Kaninchen gegenüber, sondern auch der Tatsache das ich ziemlich hungrig, und zwar auf eine Andere, eher animalische Weise, aussah. Ich überließ jedenfalls Daniel das Tier auszuweiden, während ich mich um Feuerholz kümmerte.

Das uns außer Dämonen und Banditen noch nichts passiert war schob ich auf reines Glück, erwartete jeden Tag dass es doch noch dazu kommen würde. Und dann war ich lieber vorbereitet, ließ es nahezu nie zu mich zu entspannen und nicht auf alles zu achten. Nie. Dementsprechend erschreckte mich das Kaninchen auch nicht, auch wenn mich bei Lunas Reaktion ein Schauer durchfuhr. Wieder. Ich schob es auf mein Unwissen mit Magie und war einfach froh über ein schnelles Abendessen. Ausweiden dauerte auch nicht lange, der komplizierte Teil war das Feuerloch ausheben. Dafür wäre es sicherer als ein offenes Feuer und erfüllte den Zweck genauso gut.

Es dauerte nicht lange, da knisterte das Feuer geschützt in dem ausgehobenen Loch, während wir in der selbstgebauten Behausung hockten. "Hätte nie gedacht mal so oft draußen zu campen.", gestand ich und rieb mir etwas an der Schläfe. "Vielleicht sollten wir uns das Dorf anschauen, bevor wir abreisen. Könnte ja sein, das noch etwas nicht verbrannt ist und von wert sein könnte?" Ich ging jedenfalls nicht davon aus, dass in ein oder zwei Tagen noch Banditen das Dorf bewachen würden und wir konnten echt alles gebrauchen, was wir in die Hände bekommen würden. Außerdem zog es mich irgendwie dahin, als wollte ich mich vergewissern, dass es dort wirklich niemanden mehr zu retten gab.

„Stadtmensch?“ entgegnete ich mit einem leichten Lachen, keineswegs böse gemeint. Im Grunde wünschte ich niemandem mein Leben, egal was für Fähigkeiten sich dabei entwickelt hatten. Sie konnte sich bestimmt denken dass die Erfahrungen nicht von ungefähr kamen, selbst wenn ich nicht darüber redete. „Es wäre ein voller Tagesmarsch zurück – und wir sollten hier nicht zu weit weg, sonst wird das mit den Sachen für den Rest Weg auch nichts. Das Feuer könnte auch alle möglichen anderen Gestalten angelockt haben und mir wäre es lieber wenn wir uns nicht aufteilen.“ Einfach nur Argumente, meine Sicht auf das ganze. Nachdenklich stocherte ich das Fleisch aus dem Feuer, reichte ihr den Anteil. „Wir können auf dem Rückweg vorbei, wenn wir alles haben. Auf welcher Seite wir um den See laufen bleibt sich eh gleich.“

Ohne zu zögern knabberte ich an dem Fleisch, das mir Daniel reichte "Einverstanden. Wir sollten aber vorsichtshalber vorher vom Hügel aus das Dorf beobachten. Ich möchte ungern einem dieser Banditen in die Arme laufen. Aber davon mehr, sobald es soweit ist. Kann ich dir bei den Vorbereitungen helfen?" Ich wollte ungern einfach nur Däumchen drehen, zumal das extrem langweilig wäre. Normal würde ich vielleicht ausgiebig mit meiner Magie experimentieren, doch solange es nicht sicher war, würde ich meine Kräfte lieber für den Ernstfall aufsparen. "Vielleicht schaue ich mich auch etwas nach Pflanzen um. Ich kenn mich jetzt nicht so mit der hiesigen Flora aus, aber ich hab noch ein paar Bilder aus einem Buch im Kopf." Mein Gedächnis war zwar nicht perfekt, aber ich konnte mir schon immer viel mehr merken als meine Mitschüler und lernte auch um einiges schneller. Zumindest wenn mich etwas interessierte.

“Klar” stimmte ich dem Plan zu erstmal die Gegend auszukundschaften ehe wir in irgendwas hinein liefen. Hatte ich sowieso nicht anders vorgehabt. “Mhh, für heute gehts eigentlich nur noch ums Essen und ausruhen.” Von dem Sprung aus dem Gefängnis war ich immer noch ein Stück weit ausgelaugt und für die größeren Sachen bräuchte ich auch etwas Vorlauf. Und Glück. “Irgendwas zur Ergänzung vom Fleisch wäre nett.” Und wenns nur ein paar Beeren waren. Ich konnte mich derweil um den Braten kümmern und die Bettstatt noch besser herrichten.

"Ich schau mal was sich machen lässt.", stimmte ich ohne Widerworte zu. Zwar hätten wir auch einfach etwas Brot oder Käse nehmen können, allerdings waren das unsere langhaltenden Lebensmittel und wir konnten alles gebrauchen was wir in die Hände bekamen. Ich entfernte mich vom Lager, den Blick etwas stur auf den Boden gerichtet, bis ich irgendwann weit außerhalb der Lagerstelle etwas fand. Ein paar Pilze, soweit ich wusste ungiftige, die ich schließlich auch unter die Arme klemmte. Das waren auf jedenfall mehr als genug für das Abendessen, wir würden sie über den Feuer sogar richtig schön grillen können. Vorher aber lief ich den Weg zurück zum Wasser, um die Pilze von Dreck zu befreien. Darauf achtend sie nur zu befeuchten und nicht zu ertränken, kehrte ich zufrieden damit zum Feuer zurück. "Die Pilze sind super und es gibt dahinten ne ganze Menge mehr. Was gäbe ich jetzt nur für eine Knoblauchsauce...", schwärmte ich leicht, als mir das Wasser im Mund zusammen ließ. Irgendwie blieb zu befürchten das wir noch eine lange Zeit auf diversen Luxus verzichten würden müssen.

In der Zeit die sie Pilze sammelte briet ich einen Teil des Fleisches für uns und hing den Rest gezielt in den Rauch in der Hoffnung dass es länger haltbar werden würde. Irgendwo mussten wir ja anfangen, auch wenn ich damit weniger Erfahrung hatte, es im modernem Amerika genügend Möglichkeiten gab Essen zu beschaffen die Vorräte unnötig machten. „Pilze reichen doch“ entgegnete ich mit einem Schulterzucken, nicht wirklich an irgendeine Art von Luxus gewöhnt. Es würde uns satt machen. Und Pilze brauchten auch nicht lange, so dass wir endlich essen konnten. Dunkle wie es inzwischen wurde blieb dann auch nichts außer schlafen.

"Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, was?", entgegnete ich seufzend, hätte gegen etwas Komfort wirklich nicht viel einzuwenden gehabt. Ein letztes Mal überprüfte ich die magische Barriere, ehe ich mich ebenfalls in die selbstgebaute "Höhle" legte. Abgesehen von den Alpträumen und dem unruhigen Schlaf, blieb es draußen eine weitere Nacht lang ruhig und es gab keine Anzeichen für Dämonen oder wilden Tiere.

Die nächsten Tage vergingen fast wie im Fluge, während Daniel unsere Vorräte aufstockte und allerlei Dinge vorbereitete, ging ich ihm entweder zur Hand oder übte mich in Magie. Es hatte etwas faszinierendes und ich wollte meine Entdeckungen irgendwann unbedingt aufschreiben, sie studieren. Natürlich übertrieb ich es nie, sodass ich jederzeit auf einen Hinterhalt vorbereitet war. Zwischenzeitlich gab es stärkere Regenschauer, weshalb wir unser Versteck etwas ausbauen mussten. Zum Glück hielt der Regen nie lange an, weshalb das Wasser zu keiner richtigen Gefahr wurde. Auch von den Banditen war keine Spur mehr zu finden, schienen sie wohl in eine andere Richtung abgezogen zu sein. Selbst als wir am dritten Tag wie vereinbart das Dorf auskundschaften, gab es dort kein einziges Lebenszeichen oder brauchbare Spuren in welche Richtung sie gegangen waren. Das Wetter hatte ganze Arbeit geleistet.

"Scheint als hätten sie die Leichen zumindest verbrannt.", meinte ich zu Daniel, als wir in der Dorfmitte auf einen großen Scheiterhaufen mit aufeinander gestappelten, verkohlte Leichen stießen. Ich wollte hier wirklich nicht länger als nötig bleiben, weshalb ich auch mit der Suche nach etwas brauchbaren anfing. Die Gebäude rings um den Dorfplatz waren komplett niedergebrannt, während es im äußeren Bereich immer noch relativ gut erhaltene Häuser gab. Wirklich viel von wert gab es dort zwar nicht mehr, doch ich fand eine relativ gut erhaltene Leder-Umhängetasche, die versteckt unter einem Bett gelegen hatte. Dazu ein paar Kohlestifte, was uns das Anlegen der Runenverteidigung sicher stark erleichtern würde. Im Außenbereich einer Hütte entdeckte ich zwischen einem zusammengebrochenen Haufen Holz eine alte Axt. Sie war nicht wirklich in einem guten Zustand und ich bezweifelte das man dafür irgendwas kriegen würde, doch eine schlechte Waffe war sicher besser als keine Waffe. Als ich wieder auf Daniel stieß, legte ich den Kopf schief: "Und? Was brauchbares gefunden?"

Meine Tage waren gut gefüllt damit zu jagen, zu sammeln und uns ein paar provisorische Wasserbeutel herzustellen, sowie ein paar Felle um es unterwegs gemütlicher zu haben. Der Regen half nicht gerade, auch wenn er sicher seinen Anteil dazu beitrug das und niemand entdeckte. Zum trainieren blieb mir nicht wirklich Zeit – allerdings könnte ich das auch kaum, wüsste nicht wie, hatte zu viel Sorge sonstwo zu landen und nicht zurück zu finden. Außerdem zehrte es zu sehr an meinen Kräften, hatte ich auch ein Stück weit Angst vor den unangenehmen Folgen. Es war kompliziert.
Und dann war es auch schon Zeit das Dorf auszukundschaften. Glücklicherweise war dort keiner zurück geblieben, auch wenn der Anblick all der Toten nicht der beste war. Sicher genug uns aufzuteilen. Die Banditen hatten nicht viel gelassen und mit etlichen Häusern zerstört war es auch kein leichtes, aber ich hatte Erfahrung darin: mehrere Küchenmesser, etwas Seil, einen Jutebeutel, Mäntel für uns beide. Nicht die besten, doch es war besser als gar nichts. Lunas Alpträume hatte ich durchaus mitbekommen und vielleicht kam es ja auch von zu kalten Nächten, der erzwungenen Nähe. Angesprochen hatte ich es nicht, konnte mir vorstellen wie schlimm es gewesen sein musste um solche Reaktionen hervorzurufen, kannte das nur zu gut von mir selbst. „Bisschen.“ Den Mantel warf ich ihr gleich rüber, hatte die Vorräte die ich getragen hatte bereits in den Beutel umsortiert.

Ich stieß einen begeisterten Pfiff aus und begutachtete den Mantel. "Sollte uns zumindest helfen wenn es wieder regnet und es kalt wird." Wir wären sicher noch ein paar Tage unterwegs bis wir endlich in Eriston eintreffen würden. War wohl doch keine allzu schlechte Idee gewesen nochmal hierher zu kommen. "Dann lass uns lieber verschwinden, bevo-..." Ich brach im Satz ab und spitzte die Ohren. Es wäre mir im Gespräch fast nicht aufgefallen, doch da war ein leises Winseln, ziemlich schwach und ohne meine neuen Sinne hätte ich es wohl kaum bemerkt. Instinktiv zückte ich die Axt, gut sichtbar für Daniel, als Zeichen das er besser auch auf der Hut war. Dem Geräusch folgte ich zu einem Trümmerhaufen, den ich zuvor ignoriert hatte, in der Erwartung dort nichts mehr zu finden. Doch zwischen dem Geröll aus kniete schluchzend ein kleiner Junge. Ich schätzte ihn auf gerade einmal zehn, maximal elf Jahre. Er trug schlichte Kleidung, hatte braunes Haar und vertränte blaue Augen. Der Junge umschloss mit den Händen einen leblosen, noch nicht verbrannten Körper am Boden. Vermutlich ein Elternteil? Dem Anblick nach wurde die Person von dem zusammengestürzten Haus so zugerichtet, vermutlich hatten die Banditen den Körper deshalb nicht gefunden. Etwas unsicher steckte ich die Axt wieder weg und hielt etwas Abstand zu der Situation. Der Junge hatte uns noch nicht bemerkt und weinte elendig. Mein Blick suchte ratlos nach Daniel, als würde ich fragen wollen wie man hier am besten reagiert.

Die Mäntel würden uns definitiv noch gute Dienste leisten, erwartete ich auch nicht dass es in Eriston einfach neue Sachen für uns geben würde. Auch keine Violine für mich. Mein Seufzen ging aber schon im Ansatz unter als Luna ihren Satz abbrach und ich einen Moment den Atem anhielt, auf ihre Anzeichen wartete – ohne mir überhaupt einen Kopf zu machen wie es sein konnte, dass sie  mehr wahrnahm als ich. So schlecht waren meine Sinne immerhin auch nicht.
Ein Kind war dann aber doch etwas dass ich nie erwartet hätte und mir sank das Herz. Der Junge war in Edens Alter. Kinder waren meine Schwäche, bewegte ich mich noch vor Lunas Blick auf den kleinen zu, bedacht darauf nicht nach Gefahr auszusehen, eine Falle nicht mal im Entferntesten vermutend. „Hey Cousin“ sprach ich ihn sanft an, hockte mich einen knappen Meter entfernt hin. Waffen hatte ich nicht mal ansatzweise angerührt, hielt den Blick auf das Kind. Zurücklassen würde ich es ganz gewiss nicht und wenn ich den Jungen bis Eriston tragen musste.

Der Junge blickte auf, als Daniel ihn ansprach. Seine Augen waren stark gerötet, die Tränen immer noch an den Wangen herunterlaufend. "Papa, papa...wach auf", schluchzte es immer wieder leise, sich kaum beeindrucken lassend von Daniels erscheinen. Ich für meinen Teil blieb etwas im Hintergrund. Er konnte das einfach besser als ich, jeder konnte das. Wenn es um Kinder ging fühlte ich mich immer recht unwohl, obwohl ich selbst nichtmals volljährig war. Es war nicht so das ich keine Kinder mochte, ich konnte einfach nicht mit ihnen umgehen und war oft sehr ratlos. Vielleicht lag es auch daran das ich Einzelkind war und selbst nie wirklich Freunde hatte als ich klein war. Daniel war anders. Während er den Kleinen tröstete, beobachtete ich aufmerksam die Gegend, wollte nicht aus dem Hinterhalt überrascht werden. "Wo ist Mama?", fragte der Junge Daniel, vertraute sich ihm an ohne überhaupt zu wissen wer er war. "Daniel, wir müssen los. Der Geruch in der Luft gefällt mir ganz und gar nicht.", rief ich ihm zu, als ich eine Weile herum getappt und in leichte schniefgeräusche von mir gegeben hatte. Der Wind hatte gedreht und seit dem roch ich etwas grässliches, konnte aber nicht bestimmen was es war.

Für einen langen Moment saß ich einfach vor dem Jungen, zurückgeworfen zu meinem eigenem Verlust, dem Unverständnis darüber dass mein Vater einfach weg war. Ich hatte tagelang auf dem Friedhof herumgelungert, darauf wartend dass er doch noch wiederkam. Dafür hatten wir hier nicht die Zeit. „Dein Papa wird noch sehr lange schlafen. Lassen wir ihm die Ruhe.“ entgegnete ich leise, löste den Jungen sanft von der Leiche. Er war alt genug um es eventuell zu verstehen, doch für den Moment war es so besser. Wo meine Mutter ist hatte ich auch so oft gefragt, wissend dass sie zwar da war, aber nicht hier. Nicht bei mir. Der Junge würde seine wahrscheinlich nie wiedersehen. Lunas Tonfall war dann erst was zu mir durchdrang, mich daran erinnerte dass hier mehr war als ich und ein Kind wie aus meiner Vergangenheit entrissen. „Sie musste weg. Aber wir sind da um mit dir zu spielen. Dafür müsst du jetzt ganz leise sein. Kannst du das? Du bist doch schon ein großer Junge.“ Das leichte nicken war mir genug um ihn hochzuheben, huckepack zu nehmen. Irgendwann später würde er wütend werden, mich vielleicht sogar hassen für die Lüge, die Ablenkung. Besser als zu sterben.

Das Reden überließ ich ganz Daniel. Ich hatte Respekt davor, wie leicht er mit dem Kind umging und ihn sogar beruhigen konnte. Vielleicht war Musiker zu sein nicht die einzige Berufung, die er für sich finden würde. Die Führung übernehmend, entfernte ich mich von dem ekelhaften Geruch - so gingen wir auf Nummer sicher keine Begegnung zu haben, die wir bereuen würden. Glücklicherweise war das auch die Richtung in die wir nach Eriston aufbrechen mussten, sonst hätten wir wohl einen gewaltigen Umweg machen müssen. Der Wald war schnell erreicht und wir hielten uns an sicheres Gelände. Daniel traute ich zwar auch zu mit einem Kind auf den Rücken ohne Probleme klettern oder durch dichtes Laubwerk zu warten, doch das Risiko das dabei ein Fehler passierte und der Junge verletzt wurde war zu groß. Wir beschleunigten etwas das Tempo, zwar hinterließen wir eine Reihe von Spuren, doch mit etwas Glück würde wir genug Abstand gewinnen bevor auch nur jemand auf die Idee kommen würde uns zu folgen. Der kleine Junge blieb die ganze Zeit still, zwar lagen ihm noch Tränen in den Augen, aber die Anwesenheit von Daniel schien ihm wirklich gut zu tun. Nach einigen Stunden schlief er sogar ein. Ich nutzte die Chance etwas aufzuschließen. "Was hast du jetzt vor? Selbst wenn wir ihn nach Eriston bringen, wer kümmert sich dann um den Jungen?", fragte ich ihn unvermittelt. Wir konnten ihn schließlich nicht ewig mit uns rumschleppen, ganz davon ab das die Wildnis kein Ort für einen kleinen Jungen war. Ich hatte die Befürchtung das wir ihn in Eriston absetzten und er dort auf der Straße leben musste. Und wer wusste schon ob es in Eriston Waisenhäuser gab.

Ohne meinen älteren Bruder John, der damals genau dasselbe Spiel mit mir durchgemacht hatte, würde ich jetzt kaum wissen wie ich vorzugehen hatte. Würde nicht so ruhig-distanziert sein, stark für ein Kind das niemanden sonst mehr hatte, dass gar nicht meine Verantwortung war, aber es wurde weil ich mich selbst darin sah, wusste wohin es führen konnte. Da wieder rauszukommen war verdammt schwer. Und es warf auch mich ein Stück zurück, zog Erinnerungen hervor die ich am liebsten weit weg vergraben würde. Lunas unschuldige Frage ließ mich den Griff um den Jungen festigen, als könnte er plötzlich verschwinden. „Hast du eine bessere Idee?“ fragte ich leise zurück. „Ich find schon einen guten Platz für ihn.“ Kein wir in dieser Sache, hielt ich sie aus der Verantwortung. Erwähnte auch gar nicht dass ich mit ihr ebenso ein Risiko eingegangen war, sie nicht aus dem Gefängnis hätte mitnehmen müssen, vor allem nicht bei dem Preis den meine Magie mich kostete. Aber bei diesem Kind... sie könnte genauso gut fragen meine Zukunft aufzugeben, was bisschen Frieden ich gefunden hatte.

Aufmerksam schaute ich ihn an, fast als würde ich nicht verstehen warum er so an dem Kind festhielt. Doch ich sagte nichts, legte nur die Hände hinter den Kopf und lief entspannt neben ihm her. "Möglicherweise nimmt die Magierakademie ja auch jüngere Menschen auf. So oder so kommen wir nicht drum herum ihn nach seiner Meinung zu fragen. Es wäre falsch einfach über sein Leben zu bestimmen, jetzt wo er mit einer Zukunft ohne Familie zurecht kommen muss." Ein wenig sprach ich da aus Erfahrung, er würde nur rebellieren, vielleicht sogar kriminell werden. Seine Seele hatte genug Schaden davon getragen und auch wenn ich nicht gut mit Kindern war, hieß das nicht das die Sache an mir spurlos vorbei ging. "Vielleicht hat er ja auch Verwandte in einem anderen Dorf?", fügte ich noch hinzu. Es würde die Sache zumindest um ein hundertfaches erleichtern. Als es langsam dunkel wurde, fanden wir eine Felsformation als Unterschlupf. Dort war es geschützt vor Regen und man hatte das Gebiet einigermaßen in Sicht. Feuer und den Jungen Daniel überlassend, errichtete ich mit den Kohlestiften die Runenbarriere. Ohne es zu bemerken war ich dabei besonders gründlich.

Ich würde es ihr nicht mal übel nehmen wenn sie nicht verstand, konnte aber auch nicht erklären ohne ausführlich auf meine Vorgeschichte einzugehen, was ich ja gerade nicht wollte. So wie ich auch nicht zugeben wollte überhaupt keinen Plan mit dem Jungen zu haben, nichts außer dem Wunsch sie beide in Sicherheit zu haben – egal wo. Meine eignen Bedürfnisse waren da zweitrangig, hatte ich mich noch lange nicht daran gewöhnt eigene Rechte zu haben, eine Meinung, eine Stimme. Was das bestimmen über anderer Leben anging so blieb ich still, hatte das nicht vor, würde es auch nicht tun. Luna konnte ihre eigenen Entscheidungen treffen. Den Jungen würde ich beschützen, so dass er Raum zur Entfaltung hatte. Soweit ich konnte. „Hoffentlich“ murmelte ich nur, wusste dass in dieser Welt ein Dorf alles andere als sicher war. Was für eine Rettung wäre es denn wenn in einem Monat, einem Jahr, die gleiche Sache wieder passieren würde? Wohin konnte man dann noch? Zuerst mussten wir uns aber weiter durchschlagen. Erst am Nachtlager weckte ich den Jungen, band ihn kurzerhand ins Feuermachen mit ein, als Ablenkung, sprach nicht an was geschehen war. Wenn er reden wollte, gut. Ansonsten war sein Tempo sicher das beste. Ein paar Vorräte hatten wir auch, also musste ich heute nicht gleich jagen, hoffte darauf dass die beiden morgen weiter laufen könnten während ich etwas besorgte. Meinen Mantel gab ich auch ohne weiteres ab, bereute es eher nicht noch einen gesucht zu haben bevor wir aufbrachen.

Der Abend verlief recht ruhig. Meine Interaktion mit dem Jungen beschränkte sich auf ein Minimum, was ok war, da er sich ohnehin eher mit Daniel unterhielt. Lediglich mein abendliches Magietraining beobachtete er voller Faszination. Mir wäre es erst gar nicht aufgefallen, wenn ich im Augenwinkel das Glitzern in seinen Augen nicht gesehen hätte. Doch da er mich nicht ansprach, blieb es dabei. Als es dunkler wurde und wir am feuer saßen, bemerkte ich wie Daniel dem Jungen seinen Mantel gab. Ohne groß zu zögern reichte ich Daniel dafür meinen, ohne mich abwimmeln zu lassen. "Ich hab noch ne Jacke an und so kalt ist es heute nicht.", erklärte ich grinsend, mich weigernd den Mantel für heute zurückzunehmen. Wir bedienten uns an den Vorräten und als es immer später wurde legten wir uns schließlich schlafen.

Am nächsten Morgen reisten wir weiter nach Nordosten in Richtung Eriston. Der Junge war wieder munter genug um gehen zu können. Man konnte nur vermuten, dass er wusste was los war, denn er sprach auf der Reise nur wenn man ihn was fragte. Beiläufig bekam ich mit, das der Junge Jakob hieß und wohl einen entfernten Onkel in einer Stadt namens Borville kannte. Leider war er nie da gewesen und die Chance war vermutlich recht klein dort jemanden zu finden. Blieb wohl erst einmal nur Eriston als Ziel.

Die restliche Reise dauerte noch gut zwei weitere Tage, nachdem wir unser Tempo etwas gedrosselt hatten. Jakob zu tragen wäre möglich, aber zu anstrengend gewesen, außerdem hatte der Junge ja zwei gesunde Beine. Am frühen Nachmittag des dritten Tages erreichten wir schließlich das Gebirge vor Eriston. Die Stadt selbst war in einer Talvertiefung gebaut und aus der Ferne konnte man nur erahnen wie prachtvoll die Stadt sein musste. Ein Tunnel und eine gewaltige Brücke verbanden die Vertiefung mit der Bodenebene. Zwei große Falkenstatuen versperrten die weitere Sicht in die Stadt. Am Fuße des Berges gab es dafür ein Dorf vielen Bauernhöfen umzu. Vermutlich wagten die Dämonen nicht hier anzugreifen, wenn eine gewaltige Festung die Nachbarschaft schmückte...aber vielleicht war das auch nur Wunschdenken? "Endlich...und ich dachte schon wir kommen nie an. Ich glaub meine Stiefel sind durch...", bemerkte ich etwas erleichtert und musterte dabei meine Füße.

Die Faszination über Lunas Magietraining lag nicht nur bei Jakob, auch ich beobachtete es interessiert, prägte mir alles ein auch wenn ich weder fragte noch irgendein Wort dazu sagte, wissend dass ich es selbst nicht benutzen konnte. Anders als der Junge wusste ich auch das unauffälliger zu machen. Dennoch war ich dankbar über den Mantel, gerade nachts war es ja doch kühler, ich empfindlich gegen extreme Wechsel. Mit dem Kind war es auch weniger mit aneinander kuscheln, ein Feuer die bessere Wärmequelle.
Die langsamere Reise gab uns zumindest Gelegenheit zur Erholung, Luna von der Gefangenschaft, ich von dem Aufwand uns rauszuholen. Und als ich dann sah wie groß Eriston war, stellte sich doch etwas Erleichterung ein nicht versucht zu haben uns mittels meiner Kräfte hinzubringen. Angekommen wären wir wohl, aber wo wollte ich mir gar nicht ausmalen. Ganz zu schweigen von eventuellen Schutzmechanismen, wollten die doch sicher nicht dass jeder mit solchen Kräften einfach so herein konnte. „Zieh sie doch aus“ scherzte ich was die Stiefel anging, allerdings auch mit dem durchaus ernstgemeinten Hinweis das barfuß besser war als schlecht sitzende Schuhe. „Ist ja nicht mehr weit. Wir finden sicher einen Bach in den du deine Füße hängen kannst – vielleicht auch ein paar Fische, hm?“ Leicht stupste ich den Jungen an, animierend zu antworten, ablenkend von der ungewissen Zukunft.

"Gute Idee. Ich schätze hier muss man keine Angst vor versteckten Glasscherben oder scharfkantige Plastikteilen haben?", scherzte ich zurück, behielt die Stiefel dennoch erstmal an, bis wir zumindest etwas ebeneres Gelände oder besagten Bach fanden. Der Junge reagierte erst gar nicht auf Daniels Frage, wurde aus den Gedanken gerissen, als er ihn anstupste. "Was? Oh...ja...Fisch wäre sicher gut." Er klang nicht besonders motiviert und ich konnte es ihm schlecht verübeln. Wir machten uns auf den Weg in Richtung Dorf und tatsächlich, in einem kleinen Waldstück gelegen - kurz vor den ersten Feldern, fanden wir einen etwas größeren Tümpel. Schilf versperrte einen Großteil der Sicht, und es schien auch nicht wirklich tief zu gehen. Vermutlich war das Wasser nicht gerade genießbar und ich bezweifelte irgendwie hier Fische zu finden. Dennoch hielt ich an, zog Schuhe und Strümpfe aus, ehe ich mich entspannt seufzend ins Wasser stellte. Das kühle Nass tat den Blasen ziemlich gut. "Wir sollten hier etwas rasten. Ich weiß noch nicht genau wie wir uns in der Stadt durchschlagen sollen - wir haben kein Geld. Und in den Straßen zu schlafen halte ich für ziemlich unsinnvoll.", warf ich an Daniel gerichtet ein. Schon möglich das man uns in der Magierakademie direkt aufnahm, doch das hielt ich für ziemlich unwahrscheinlich und sicher gab es auch sowas wie Studiengebühren. Dinge die wir uns vorher durch den Kopf gehen lassen mussten.

So ganz schien ich es nicht zu schaffen den Jungen abzulenken... aber es war ja auch viel geschehen. Und wahrscheinlich hatte er inzwischen mitbekommen, wie wir nicht so recht einen Plan hatten wohin mit ihm oder uns. Hier in der Stadt war es auch schwerer Essen zu besorgen, konnten wir nicht einfach jagen oder sammeln. Fisch war da noch die beste Option, auch wenn ich vermutete dass die Seen hier auch irgendwem gehörten. Der den wir fanden schien auch keine Möglichkeit zu sein, also setzte ich mich ans Ufer nahe Luna und zeigte Jakob wie man Steine über die Oberfläche hüpfen ließ. „Irgendwas finden wir schon. Du wolltest doch zu dieser Akademie? Die haben sicher Räume für die Schüler...“ Mein Blick wanderte zu Jakob, ein wenig hoffend dass auch er dort einen Platz finden würde. Ich konnte keine Magie, wollte es gar nicht erst versuchen, wusste aber dass ich schon irgendwie klar kommen würde. Hatte ich immer.