Arcaria - 4.2.2

Es war wieder recht spät, als ich die kleine Seitengasse beim Waschhaus, verließ. In der linken Hosentasche drückte ein dickes Bündel Scheine auf meinen Oberschenkel. Ein gutes Gefühl, endlich hatte ich auch mal wieder etwas, womit ich die Schulden bei meinen Brüdern begleichen konnte.
Morgen früh war wieder Schule, und dort wollten einige meiner Klassenkameraden ebenfalls ihr Geld wieder. Letzten Endes würde einfach nichts mehr für mich überbleiben.
Enttäuscht seufzend, ließ ich meinen Kopf hängen und trat eine leere Flasche zur Seite. Es war eben immer das Gleiche.
Als ich zu Hause jedem seinen Kredit zurückgegeben hatte, schwang ich mich direkt ins Nest. Schlimm genug, dass ich morgen wieder früh raus musste. Hatte keinen Bock drauf auch noch zu spät zu kommen und von den Alten heiße Ohren zu kassieren.

Als ein eisiger Wind mein Gesicht peitschte, schreckte ich mit einem Mal auf. Ein kurzer Blick reichte, um den Umstand so zu deuten, dass ich nicht mehr in unserem Haus war. Ein Adrenalinrausch übermannte mich. "Verfluchte Scheiße!?" Rief ich und öffnete erst mal diesen beschissenen Hemdknopf am Hals. Dabei bemerkte ich unweigerlich, dass man mich wohl entführt, umgekleidet und in der Wildnis ausgesetzt hatte. Erst jetzt registrierte ich eine Person, die sich im Augenwinkel bewegte.
"He du? Was ist hier los?" Konfrontierte ich den Fremden. Er trug seltsame Kleidung. Hoffentlich war das keiner dieser Irren, die Leute in der Berge trugen, um sie dann zu essen oder so.

Eigentlich hatte ich eine Schuluniform angehabt, Blazer, Hemd, Hose, alles in blau oder beige und nichts besonderes. Ohrringe, Undercut aber lange Haare, auffallend gold-blond – wobei das tatsächlich meine natürliche Haarfarbe war und nicht gefärbt. Jetzt waren es bequemere Sachen, passender geschnitten, in sanft fließenden Färbung von Grün, Ocker und Rot. Huh. Immer noch etwas kühl für die Jahreszeit, aber könnte deutlich schlimmer sein für einen Traum.
Etwas irritiert darüber angesprochen zu werden drehte ich mich zu dem anderem Kerl. „Woher soll ich das wissen?“ Das erinnerte mich zwar vage an den Himalaya, aber wieso sich hier noch jemand in meinem Traum rumschlich war mir genauso unklar.

Der Fremde sah nicht aus, als würde er sich besonders wohl führen. Natürlich wusste er nicht was hier los war. Offensichtlich war ihm das gleiche Schicksal wiederfahren wie mir. -Planänderung, frontaler Angriff!
So höflich ich nur konnte, verneigte ich mich und begann: "Mein Name ist Tanaka Goro, ich stamme aus der Region Nerima." Dass der Fremde nicht aus Japan kommen würde, konnte ich nicht wissen. An seiner Reaktion konnte ich aber ableiten, dass auch er seine Kleidung gewechselt haben musste. Für den Moment wartete ich einfach einmal ab. Mehr als ignorieren konnte er mich schließlich nicht.

Verbeugen war eine sehr... altmodische Art der Vorstellung und ich blinzelte etwas irritiert. Letzten Endes faltete ich aber die Hände und neigte leicht den Kopf, so wie es in Indien üblich war. Nicht das ich so aussah als würde ich von einem der beiden Länder stammen, mich genug Fremde eher in Nordeuropa verordneten. Aber zu Traumgestalten sollte man höflich sein – es könnte ein Gott sein. Oder irgendsowas. Ich hatte nicht allen Geschichten wirklich zugehört, aber konstantes Vorhalten blieb eben früher oder später hängen. „Da..y. Day Wing.“ stellte ich mich mit leichtem Stocken vor. Nicht Daniel. Nicht hier, nicht wenn ich die Wahl hatte. „Aus Mumbai.“ Was wenig bedeutete, lebten in der Stadt doch genug Menschen um ein ganzes eigenes Land zu gründen.

Es dauerte etwas, bis die Informationen mein Hirn durchlaufen hatten. "Mumbai?" Wiederholte ich ungläubig. -Ja sicher doch. Wenn er mir nicht sagen wollte, woher er war, dann war es eben so. Seinen Namen wollte ich mir trotzdem merken, denn wie ein Irrer kam er mir nun wirklich nicht mehr vor.
Während ich versuchte das Gespräch weiter zu vertiefen, glitt mein Blick etwas durch die Umgebung. Hier war es einfach nur schroff, kalt und widerlich ungemütlich. "Also Day Wing aus Mumbai, hier geht etwas sehr Seltsames vor sich." Stellte ich fest, wobei ich meine Hände in die Hüften stemmte.
Da sich etwas abseits eine Höhle zu befinden schien, deutete ich in deren Richtung. "Ich werde jetzt nach einem Unterschlupf suchen. Hier ist es eindeutig zu kalt."
Kündigte ich mein Vorhaben an und schritt sogleich von Dannen.

Als ich jedoch einige Meter gegangen war, musste ich innehalten. Die vermeintliche Höhle befand sich auf der anderen Seite eine Klippe und war nur durch eine schmale Brücke zu erreichen. Dazu kam noch, dass das Teil echt gruselig leuchtete und wie ein Schädel aussah. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet. "Ob da hinten noch was kommt...?" Murmelte ich. Und ehe ich mir selbst antworten konnte, verspürte ich den Drang, ins Licht zu gehen. Vermutlich kein gutes Zeichen.

Bei dem zweifelnden Unterton zuckte ich nur mit den Schultern. Seine Region kannte ich ja auch nicht und mit Fremden Englisch zu sprechen war nur normal. Mein Blick schweifte ebenfalls durch die Berge, wenn auch mehr interessierter. Ich hatte keinesfalls die richtige Kleidung für einen solchen Ausflug, doch an sich gefiel mir die Ruhe hier. Je weniger Leute, desto besser.
„Das haben Träume so an sich.“ murmelte ich nur. Seltsam war hieran allenfalls, dass ich mir dessen so bewusst war, Entscheidungen treffen konnte und nicht nur zuschaute. Auch wenn es Einschränkungen zu haben schien – mir vorzustellen fliegen zu können funktionierte jedenfalls nicht. So folgte ich dann auch Tanaka nach einem Moment, betrat die Brücke in Richtung Schädelhöhle. Woher die Metaphor wohl kam? „Tretet ein in ein neues Leben“ hörte ich nur am Rande, war bereits zu weit vor geschritten als das Licht mich erfasste.

Es ging plötzlich alles so schnell. Das Licht umschloss mich und eine seltsame Stimme ertönte. Als ich wieder etwas erkennen konnte, schien die Sonne auf mich hinunter. Wir, Day aus Mumbai war ebenfalls hier gelandet, befanden uns auf einer weiten Ebene. Mehr konnte ich im ersten Moment nicht erkennen.
"Das kann kein Traum sein." Meinte ich, als meine Hände den staubigen Boden berührten. Noch nie im Leben hatte ich so einen realistischen Traum. Vor allem, wie zum Teufel sollte ich auf so eine verrückte Idee kommen?
Ein Gefühl der Hilflosigkeit machte sich in mir breit. Hier draußen war keine Stadt, keine Restaurants, keine gemütliche Bude. Vielleicht sah man es mir an, aber das zu begreifen raubte mir jeglichen Mut.

Es war wärmer. Nicht mehr in den Bergen, angenehm um den Tag draußen zu verbringen tatsächlich. Blinzelnd blickte ich in den klaren Himmel, von der Natur beruhigt und gar nicht mehr so irritiert über Tanakas Anwesenheit. Ein klein wenig Gesellschaft war doch nicht so falsch. „Ist doch nett hier“ entgegnete ich nur, strich über das wilde Gras.
Natürlich, wir mussten etwas Energie reinstecken hier zu überleben, aber so dramatisch war das auch nicht. Irgendwo würden sich schon Menschen finden. Essen könnte ein Problem werden und das ärgerte mich, hieß es doch wir sollten sofort aufbrechen um eine bessere Position zu finden.

"Nett?!" fragte ich völlig entgeistert. Wie bereits erwähnt, gab es hier nichts? Das schien den Jungen aber recht wenig zu kümmern. Ob er wohl schon in einer ähnlichen Situation war? "Und? Was sollen wir jetzt machen? Hier ist kein Schwein und ein Dorf kann ich auch keins sehen..." Fragte ich, in der Hoffnung eine beruhigende Antwort zu erhalten.
Am Horizont erblickte ich weder Hochhäuser noch die Rauchschwaden einer Siedlung. Und noch einmal drehte ich mich um die eigene Achse, um auch wirklich nichts zu übersehen.
Unweit gab es ein paar Büsche, vielleicht eher eine Hecke. Bäume waren hingegen etwas weiter entfernt. Ansonsten gab es Gras. Davon aber mehr als genug. Es wunderte mich sehr, dass man dieses gute Land nicht bestellt hatte. In Japan war entweder alles verbaut und Ackerland. Doch mit Pflanzen hatte ich mich nie auseinandergesetzt. Wozu auch?

Ich zuckte leicht mit den Schultern. „Lieber das als Menschenmassen.“ Wäre er lieber in direkt in Front von dutzenden Beobachtern erschienen, ohne Erklärung wie das möglich war? Aber ich konnte die Sorge zumindest ein klein wenig nachvollziehen, stand auf und warf einen Blick umher.

„Hier sitzen bleiben bringt uns jedenfalls nirgendwohin. Fangen wir doch bei dem Wald an. Zumindest ist da Schatten, Unterschlupf falls es regnet... und die Bäume müssen ja von irgendwo Wasser beziehen.“ Nichts zu trinken zu haben wäre deutlich schlimmer als Hunger. Blieb uns also nichts übrig, als unser Glück zu versuchen.

Ernüchtert seufzte ich. Mir wäre eine Zivilisation mit Millionen Menschen lieber gewesen, als ein Wald. Nun musste ich mich vorerst damit begnügen, hier zu sein.
Immerhin hatte er eine Idee, wie es nun weiter gehen konnte. "Schlimmer kanns ja kaum werden." Nörgelte ich unzufrieden. Meine Füße setzten sich daraufhin langsam in Bewegung. Denn hier bleiben wollte ich genauso wenig. Dann war der Wald doch die bessere Wahl. Vielleicht befand sich dort ja auch ein Schild oder so.
Nach einigen Minuten Fußmarsch waren wir dem Wald zwar schon etwas näher gekommen, doch schien er immer noch sehr weit weg zu sein. Ich war es nicht gewohnt, solange über unwegsames Gelände zu gehen. Gefühlt jeder Stock und jeder Stein, ja sogar die Grasbüschel blieben an meinen schönen Schuhen hängen. Es war einfach eine Schande und schade um das gute Leder. Dem Anderen schien die ganze Sache viel weniger auszumachen als mir. Ich setzte mir das Ziel bis zum Waldrand an meinen Schritten zu arbeiten und nicht mehr wie ein Kleinkind über alles drüber zu stolpern.
"Es scheint dich nicht so sehr zu stören hier zu sein." Eröffnete ich nach langer Stille das Gespräch. Eine Antwort erwartete ich nicht direkt. Viel mehr wollte ich mich von der Sorge ablenken, im Nirgendwo gestrandet zu sein. Es war echt gut, nicht vollkommen alleine zu sein.

Schlimmer war durchaus möglich. Angefangen bei Wetter über Angriffe durch Tiere oder unfreundlich gesinnte Menschen – aber das würde der Stimmung wohl nichts gutes tun. Mein Schuhwerk war nicht viel besser als seins, irgendeine Art Mokassin durch die man jede Unebenheit spürte. Gewöhnungsbedürftig. Da bevorzugte ich doch etwas mit mehr Griff in der Sohle. Aber sie waren warm und besser als in jeden spitzen Stock oder Stein zu treten. Offene Wunden an den Füßen und Dreck waren das letzte was wir brauchten.
Der Marsch war für meine Verhältnisse auch eher ein mäßiges Schlendern, rücksichtsvoll langsam da Tanaka so seine Probleme mit dem Konzept hatte. Oder seine Kleidung war noch schlechter angepasst. „Sollte es? Ich bevorzuge eine Wanderung zwar üblicherweise mit mehr Ausrüstung, aber es ist deutlich besser als die Alternative. Oder möchtest du einem Marktplatz voller Menschen erklären, wie und warum wir plötzlich da sind?“

"Mehr Ausrüstung bedeutet also, dass du öfter unterwegs bist" Kombinierte ich, gerade noch einem spitzen Stock ausweichend. "Auftauchen und gleich wieder verschwinden. Wenn genügend Masse da ist, dann bin ich garantiert nicht mehr zu finden." Antwortete ich selbstsicher. Solange man nicht gerade wie ein bunter Hund gekleidet war... Ich konnte ja nicht wissen, dass meine Kleidung eher dem Adel zuzuordnen war.
An dem Wäldchen angekommen, kratzte ich erstmal den Schutz von meinen feinen Schuhen. Erst als das erledigt war, widmete ich der Umgebung meine volle Aufmerksamkeit. Es war einfach nur ein Wald. Nicht dass ich oft in so einem unterwegs gewesen war, aber man erkannte ihn an solchen. Am Rand war es noch recht hell. Nach innen schien es immer dunkler zu werden. Trotz der geringen Dichte an Bäumen, konnte man nicht gerade viel erkennen.
Es wunderte mich aber, dass man weder Vögel noch das Rauschen des Windes in den Wipfeln vernahm. "Hier ist irgendwas mega unangenehm gruselig. Merkst du wie still es plötzlich geworden ist?" Äußerte ich meine Bedenken und es war, als würde das Innere des Waldes eine abweisende Kälte ausstrahlen. Ob es Klug war hier zu lange zu verweilen?

„Wenn ich Freizeit habe.“ In den seltenen Momenten wo ich sowas bekam, aber das musste er ja nicht wissen. An wandern war ja auch nichts verwerfliches oder schlimmes. „Du siehst nicht gerade unauffällig aus in den hochwertigen Klamotten.“ Von der Qualität her schienen diese jedenfalls deutlich teurer als die simplen Schnitte und Farben meiner. Und unbequemer. Tauschen würde ich sicher nicht.
Sich von Schmutz zu befreien war recht zwecklos, war doch immer noch keine Siedlung oder ähnliches in Sicht. Aber wenn es ihm Spaß machte. „Was erwartest du denn, wenn wir hier plötzlich entlang stolzieren?“ Je nachdem wie abgelegen es war konnte es gut sein, dass die Tiere noch nie einen Menschen gesehen hatten. „Wir können ja erstmal am Rand entlang gehen, sehen was sich findet.“ So ganz ohne Hilfsmittel im Wald war verlaufen doch recht einfach. Besser wir blieben in Sichtweite vom Rand, zur Orientierung.

Bisher war es zwischen uns halbwegs gut gelaufen, aber der Kerl schien gerade echt Streit zu suchen. "Hätte ja auch in einem Bordell landen können. Dann wärst du der mit den auffälligen Klamotten." Antwortete ich, ehe man mir die Umstände meiner Unachtsamkeit mitteilte.
Ratlos hob ich meine Schultern und zischte abwertend. "In Zukunft behalte ich meine Beobachtungen einfach für mich, Captain Earth." So eine plumpe Antwort hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Trotzdem war sein Vorschlag, dem Rand des Waldes zu folgen, nicht der Dümmste. Wortlos ging ich also weiter in den Wald hinein, um dann von innen heraus dem Rand zu folgen. Es war schwer zu sagen, wie lange wir bereits unterwegs waren, doch hielt ich inne, als ein Blütenstock meine Aufmerksamkeit erregte.
Die Kelche der Blume waren goldgelb, die Stiele lang und dick. Im Inneren funkelte eine Flüssigkeit, die einen süßlichen Duft verströmte. Erst jetzt, oder gerade jetzt verspürte ich den Drang etwas zu essen oder zu trinken. Ich schluckte schwer. Mit Sicherheit war es keine gute Idee dieses Zeug zu trinken, aber es war einfach zu verlockend.
"Wie lange sind wir schon unterwegs? Meine Kehle brennt wie Feuer?" Wollte ich wissenl. Einfach zu fragen, ob er dieses Zeug trinken würde, war mir zu schwer. Langsam mussten wir doch irgendwo ankommen. Hier und da erkannte man schließlich auch Baumstümpfe, die garantiert nicht natürlich entstanden sein konnten. Und selbst wenn es keine Siedlung gab, so erhoffte ich mir eine Waldhütte oder einen Hof. Am besten mit Bewirtung und Übernachtung. Erneut lief mir das Wasser im Mund zusammen.

Ich lachte nur leise bei seiner beleidigten Reaktion. Es war ein Wald. Natur war simple, hatte nicht so komplizierte Regeln wie der Rest der Welt und vorallem folgte sie einfachen Mustern – wie das Tiere bei Anschein etwas Fremden eben verstummten, bis sie merkten es war keine Gefahr. Schlimmstenfalls strich da ein Raubtier umher, doch auch die hielten sich üblicherweise von Menschen fern, besonders wenn sie solche nicht kannten. Zumindest hatten wir unter den Bäumen Schatten, der Boden weich und trocken.
Bei der Frage nach der Zeit blickte ich in den Himmel, versuchte den Sonnenstand zwischen dem Geäst zu ahnen. „Eine Stunde, vielleicht zwei?“ Sollte man auch ohne Trinken aushalten, selbst wenn ich verstehen konnte wie unkomfortable es war. „Wenn es dich zum Trinken verführen zu scheint, ist es wahrscheinlich das letzte was man tatsächlich trinken sollte.“ Kennen tat ich diese Blume nicht, da wäre Gras kauen noch besser. Aber hier waren Bäume gefällt worden, irgendwo mussten die ja hingebracht sein. Und nicht weit, sonst wären hier Wege für Wägen oder ähnliches Gerät.

Missmutig brummte ich vor mich hin. Natürlich war es keine gute Idee das Zeug zu trinken, aber sicher war eben sicher. Es ging noch eine ganze Weile, bis man das Gefühl bekam, der Wald würde von seiner wilden und ursprünglichen Form in eine eher mäßige, fast schon friedliche wechseln. Selbst die Vögel hatten in der Zwischenzeit ihren Gesang wieder aufgenommen. Nun erkannte man auch immer jüngere Bäume, zwischen Feldern aus abgeschlagenen Stümpfen. Es sah aus wie ein aufgeforsteter Wald.
Und als meine Füße endlich so etwas wie einen Weg berührten, schöpfte ich tatsächlich wieder neue Kraft. Nun hatten wir die Wahl, weiter in den Wald gehen oder dem Weg aus dem Wald heraus zu folgen. Der Weg, welcher in den Wald führte, war relativ fest getreten. An seinem Rand lagen frisch geschlagene Stämme und es waren eindeutig Wagenspuren zu erkennen. Für meinen Geschmack sahen diese aber nicht aus, als wäre da einer mit dem Auto oder LKW lang gefahren. Viel mehr erinnerte es mich an die Karren, welche es manchmal noch in den ländlichen Gegenden gab.
Aus dem Wald heraus konnte ich erkennen, dass der Pfad wieder über die offene Wiese zu führen schien. Das hohe Gras versperrte aber die Sicht über den genauen Verlauf. "Was denkst du?" Fragte ich unschlüssig.

Mit den Vögeln und dem ordentlicheren Wald war es schon mehr ein entspannter Spaziergang. Die Bäume hier waren sicher nachgepflanzt, weniger ursprünglicher Wuchs, wenig Unterholz. Kluge Leute, die nicht nur nahmen, sondern gleich wieder aufforsteten. Sonst wäre andernfalls irgendwann nichts übrig.
„Sieht gut aus. Der Weg scheint nur in den Wald zu führen, nicht durch, also muss hier ja irgendwo eine Siedlung sein. Ohne Hütte für Arbeiter können die das Holz kaum weit schleppen.“ Vielleicht noch eine weitere Stunde, hinter den grasbewachsenem Hügelland. Rauch war zwar immer noch nicht zu sehen, aber das konnte auch eine Täuschung des Lichts sein. „Folgen wir dem Weg soweit wir kommen.“ Solange sie auf dem Pfad blieben, sollte es auch möglich sein im Dunkeln weiter zu gehen. Ansonsten war Gras bequem, bot freie Sicht ringsum. Ich riss nur beiläufig ein paar Gräser aus, flocht sie in Armbänder um meine Hände zu beschäftigen.

Wir gingen also zusammen aus dem Wald, folgten dem kleinen Weg und erklimmten die Hügel. Von dort aus konnte man auch schon eine Siedlung erkennen. Nichts wildes, aber seltsamerweise mit strohgedeckten Dächern, Kühen und viel Landwirtschaft. "Ach du scheiße. Sind wir in der Steinzeit gelandet?" Lachte ich, soweit das meine Kehle noch verschmerzen ließ.
Natürlich war ich geschockt, aber anderseits wenn wir durch die Gegend teleportiert werden konnten, warum nicht auch durch die Zeit. Womöglich befanden wir uns nicht einmal mehr auf der Erde. "Egal. Ich brauche was von dem Kuhwasser da unten." Meinte ich, die Hand an die Kehle gelegt.
Weiter unten traf sich der Pfad mit einer kleinen Straße. Es war zwar nicht viel Verkehr, doch ein oder zwei Ochsenkarren mit Handelswaren kreuzten unseren Weg.
Dass ich seltsame Blicke wegen meiner Kleidung ertragen musste, regte mich wirklich auf. Es gab eben auch Leute, die nicht in Lumpen herumlaufen wollten. "Bei denen kannst du sicher was für deinen Style klar machen. Oma Hilde da drüben scheint dich schon ins Herz geschlossen zu haben." Scherzte ich, als die alte Dame ihren Blick nicht von dem Jungen lassen konnte. Sie fuhr als Beifahrer hinten auf dem Karren mit. Ihr Sohn oder Enkel lenkte das Gespann gezielt auf das Dorftor zu. Oder Stadt? Wie auch immer.

Ungewöhnlich war der Mangel an Zivilisation hier sicher, aber nicht beunruhigend so. Es gab genügend abgelegene Ortschaften wo die Leute keine andere Wahl hatten als so zu leben. Allerdings sah nichts hiervon wie Indien aus, womit ich mich schon fragte wo wir hier überhaupt waren. Ging alles nicht ganz mit rechten Dingen zu, aber ich war froh über jeden Moment den ich nicht in einer überfüllten Stadt verbringen musste.
Kuhwasser sollte er dann doch lieber nicht trinken – was immer er darunter überhaupt verstand. Meine simplere Kleidung fiel hier wenige auf, wobei ich nicht vorhatte sie einzutauschen. Waren immerhin bequem. Besser Schuhe könnten sein, aber ohne Geld dürfte das schwierig werden. Naja, noch hatte ich keine Probleme. Was Goros Kommentar anging, so schüttelte ich aber irritiert den Kopf. War doch nicht sein Diener. „Die werden ja wohl einen öffentlichen Brunnen oder sowas haben.“ Ein Fluss, wenn sich sonst nichts fand. Wenn es ihm so dringend war konnte er selber fragen.

Ich war es nicht gewohnt, dass man meine Anspielungen so kalt hin nahm. Gut, mein sonstiger Umgang pflegte einen etwas gelockerten Umgang. Meine Unsicherheit überspielte ich mit einem ebenso kalten Schulterzucken. War ja meine Sache, was ich trinken wollte und was nicht. Gerade deshalb ging ich direkt zu einem der Tröge, neben dem ein einsamer Eimer Wasser stand. Es roch nicht, war klar und schien sogar noch kalt zu sein.
Gerade als ich mir einen Schluck genehmigen wollte, unterbrach mich eine Stimme.
"Haltet ein! Ihr solltet das nicht trinken, werter Herr." Riet mir einer der Karrentreiber. Verwirrte ließ ich von meinem Vorhaben ab. Dass man an diesen Trögen, vor den Toren die Tiere tränkte, war mir natürlich klar. Aber dass es wirklich jemanden juckte ob ich oder ein Pferd hier tranken, schockierte mich wirklich.
Neben mir stand ein Mann mittleren Alters. Seine Kleidung war altertümlich, aber dennoch solide. Sein Karren hatte ein Pferd, zwei große beschlagene Räder und eine Abdeckung aus gefärbtem Stoff. Kurzum: Er passte nicht ganz zum Rest der Umgebung.
Seltsam war auch, dass er so plötzlich an dieser Tränke stand. "Wie?" Fragte ich, noch immer verwirrt.
Der Mann aber grinste nur verschmitzt und warf mir einen Trinkbeutel aus Leder zu. "Nehmt einen Schluck. Das wird euch helfen etwas klarer zu werden." Versprach der Mann, den ich nun einfach Händler nannte. Als er seinen Beutel heraus kramte, konnte ich mehr als genug Waren auf seinem Karren sehen. Es war nur seltsam, dass die Ware alt und verschmutzt aussah, als hätte man sie aus der Erde geholt. Ob er wohl Schatzjäger war? Oder Grabschänder.
Ohne weiter nachzudenken, trank ich von dem Gesöff. Es schmeckte bitter und komisch. Irgendwie nach Kräutertee. "Ehm... Dankeschön." Bedankte ich mich räuspernd und wollte den Beutel zurück geben, doch schob der Händler meine Hand weiter zu meinem Gefährten. "Ihr dürft euch gerne bedienen." Bot er an und lächelte weiterhin.

Auch wenn in den Eimern sicher nichts anderes als Wasser war, so dürfte da doch mehr Dreck drin sein als in jedem Brunnen. Vielleicht war ich da aber auch empfindlich, hatte Indien doch etliche Probleme mit verschmutzten Flüssen. Das ihn jemand daran hindern wollte war dann aber doch verdächtig. Lieber blieb ich in der Nähe, denn auch wenn wir uns kaum kannten, so würde ich doch nicht dabei stehen und ihn in Gefahr geraten lassen.
Von einem Fremden keine unbekannte Getränke anzunehmen war auch so etwas, dass den meisten bereits als Kind ausgetrieben wurde. Vor allem Zeug in Behältern wo man nicht sehen konnte was drin war. Doch bevor ich auch nur ein Wort der Sorge darüber äußern konnte, war es schon zu spät. Nun, zumindest kippte er nicht sofort um. Konnte aber noch kommen. Den Beutel nahm ich ihm allerdings ab, wenn ich ihn auch sofort wieder verschloss ohne zu trinken und nur ein schlichtes „Danke für den Beutel.“ an den Händler richtete. Sollte er ruhig merken, dass ich dem nicht traute. Was für ein Händler reiste auch mit einem Wagen voller dreckigem Schrott durch die Lande?

Ächzend und mit gewaltigen Kopfschmerzen, die deutlich über einen normalen Kater hinausgingen, erwachte ich in Dunkelheit. Der Untergrund bewegte sich unrhymisch wie ein Fahrzeug auf einem unebenen Schotterweg. Ich verbiss mir einen überraschten Aufschrei als mein Kopf gegen den Untergrund prallte dank einem besonders starken Ruckler und versuchte meine Umgebung wahrzunehmen. Wie bereits bemerkt war es dunkel, doch dies schien meinem Seh-Sinn nicht zu behindern. Eine Decke war über meinem Kopf gespannt und diverse Kisten und Kleinstwaren engten meine Figur in dem kleinen Raum ein. Ich seufzte etwas resigniert als ich bemerkte das meine Hände und Füße gefesselt waren und mir jemand etwas Stoffartiges als Knebel in den Mund gepresst hatte. "Toll, schon wieder gekidnappt...scheint neuer Trend zu sein..." Gäbe es eine Entführungsrezension, ich würde dem Ganzen gerade mal fünf von zehn sternen geben. Und das auch nur wegen dem kinky Bondage. Zumindest meine erste Entführung war mehr ... nunja ... ein Weltenunterschied. Wortwörtlich.

Meine Gedanken scheiften gut einen Tag zurück. Ich hatte gerade einen Job abgeschlossen und war auf dem Heimweg, als plötzlich der Boden unter meinen Füßen verschwand und ich ins leere stürzte. Nur um anschließend in einem verschneiten Gebirge wieder aufzuwachen und mich einem sprechenden Steinschädel zu stellen. Das nicht genug...ich hatte plötzlich einen Schweif - wie ein kleines Teufelchen. Und DAS war der Moment, wo ich ernsthaft daran zweifelte ob ich nicht einfach auf einem Drogentrip war. Jemand musste meine Getränkeflasche gespiked haben um solche Halluzinationen auszulösen.

Die Theorie löste sich jedoch auf, als der Steinschädel mich mitten im Nirgendwo aussetzte und ich jeden Trick - von zwicken über auf die Zunge beißen - probierte aufzuwachen. Denkbar ohne Erfolg. Und damit began meine Suche nach Zivilisation. Das Gute an der Geschichte? Wenn das wirklich kein Drogentrip war und ich nicht einfach im nächsten Moment aufwachte, dann bot sich mir eine unglaubliche Chance. Doch ich blieb skeptisch und ohne große Erwartung würde die Enttäuschung am Ende nicht allzu groß sein.

Lange Rede, kurzer Sinn, nach einem halben Tag Fußmarsch erreichte ich ein kleines mittelalterliches Dorf und mit ein paar geübten Handgriffen war ich auch schon ein paar Goldstücke reicher was mir einen Platz in der örtlichen Taverne gewährleistete. The End.

"Schockierend, ich weiß.", murmelte ich in Gedanken zu mir selbst und stellte mir ein imaginäres Publikum vor. "Der Rest ist recht trübe und nun bin ich hier..." Seufzend began ich damit mich von den Fesseln zu befreien. Es war nur einfaches Seil und wer auch immer mich gefesselt hatte war recht schlampig und unerfahren.

Als der Karren endlich stoppte war ich bereits komplett befreit und hatte mir einen der wenigen wertvollen Gegenstände im ganzen Krämpel geschnappt: Ein spitzer Dolch. Aufmerksam horchend vernahm ich ein paar Stimmen weiter entfernt vom Karren, weshalb ich leichtfüßig mich von der Plane über mir befreite und auf der anderen Seite des Karren in Freiheit sprang nachdem ich mir vergewissert hatte, das keiner in der Nähe war. Ich zuckte unangenehm zusammen als das Licht der Sonne auf meine Haut traf. Es war nicht wirklich schmerzhaft, bloß gewöhnungsbedürftig und in was auch immer mich dieses ganze Weltentführungsgeschichte verwandelt hatte ließ meine physische Stärke im Sonnenlicht verschwinden. "Kein Problem, kein Problem."

Schnaufend beobachtete ich kurz von wo die Stimmen her kamen und sah zwei jüngere Männer die mit einem Mann mittleren Alters sich unterhielten. Es war recht schnell klar, deren Konversation entnehmend, dass letzteres der Karrenfahrer und vermutlich mein Kidnapper war. "Niemand entführt und verschnürt mich wie ein Päckchen unbestraft."

Vorsicht trennte ich mit dem Dolch einige Schaniere, die eines der Räder des Karren befestigt hielten. Somit würde er zumindest nicht so schnell entkommen, da das Rad bei der kleinsten Bewegung zusammenbrechen würde. Zumindest ging ich davon aus. Vorbereitung abgeschlossen hielt ich mich im Schatten einiger Bäume und vermied das direkte Sichtfeld der drei Personen. Erst einige Meter im Rücken des Mannes sprang ich hervor, klammerte meine Beine mit meinen Leichtgewicht um seine Hüften und meine Arme um seinen Hals, während die Klinge meines neuen Dolches an seiner Kehle ruhte.

"Mah, Mah. Warum fragt nie jemand nach meiner Meinung wenn ich entführt werde? Und nicht einmal einen schönen Monolog eines Bösewichts...sondern einfach zack und Licht aus. Wie langweilig...", grummelte ich unzufrieden, ehe ich kurzerhand zu den beiden jungen Männern schaute. Ein kurzer Blick genügte um zu erkennen das die Wahrscheinlichkeit deren Zusammenarbeit eher gering war. "Hi, hi zusammen! Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich Mister Ich-entführe-gerne-arglose-Personen für eine Weile ausleihe?" Den Dolch dabei etwas fester gegen seine Kehle drück. "Weiß nur noch nicht ob ich ihn zurückgebe. Und in welchem Zustand..."

"Ja schon, man sollte immer vorsichtig sein." Säuselte der Händler amüsiert über das Misstrauen. Warum auch nicht? Er hatte mir ja bereits etwas von seinem Trunk verabreicht. Er erhoffte sich wohl viele Goldstücke in meinen leeren Taschen.
Das Gesöff schien im Moment keine große Wirkung auf mich zu haben. Da ich in meinem Leben schon viele seltsame Dinge ausprobiert hatte, war ich wohl schon etwas abgehärtet.
"Jetzt sei nicht so misstrauisch. Der Herr meint es doch nur gut mit uns." maulte ich den Jungen neben mir an, der zwar den Schlauch nahm, sich aber sehr komisch verhielt.
"Ach nicht doch." Lehnte der Händler meinen Einsatz dankend ab. Sein hämisches Grinsen verschwand aber, als der kalte Stahl eines Dolches, seinen Hals einengte.
Erschrocken wich ich zurück.
Eine Frau, Mädchen, hatte den Mann gepackt und bezichtigte ihn der Freiheitsberaubung. "Zack Licht aus?" Wiederholte ich und warf meinem Begleiter einen kurzen Blick der Sorge zu. "Eine Irre!" Gurgelte der Mann, konnte sich aber nicht ohne weiteres befreien. Sein Aufruhr hatte aber zur Folge, dass immer mehr Menschen die Blicke auf uns richteten.
Mein Magen gurgelte nun ebenfalls. Ein seltsames Kribbeln lag mir auf der Zunge.
Es machte mich wütend, dass ich von so einer seriösen Person fast betrogen worden wäre. Gab es denn nur noch Halunken auf dieser Welt? "Machh wath du wilth." Zischte ich mit meiner tauben Zunge. Ein Wunder, dass ich sie mir nicht abgebissen hatte.
Sollte sie ihn eben umlegen. -Umlegen- war das Stichwort. Ich verspürte das plötzliche Verlangen, in die Horizontale zu wechseln. Schwankend ging ich weiter auf das Dorf zu. Irgendwo würde ich schon ein schönes Bett finden. Bei den Ziegen, nicht weit vom Händler, konnte ich mich schon nicht mehr auf den Beinen halte.