Seelentor New Arrival

Wäre mir bereits am morgen bewusst gewesen, wie verrückt dieser Tag noch werden würde, wäre ich vermutlich im Bett geblieben und hätte mir beim Arzt eine Krankmeldung erschlichen. Es begann eigentlich alles mit der Bahnfahrt zur Arbeit. Dank Ray traute ich mir einen Führerschein nicht zu, weshalb der Traum vom eigenen Auto schon früh geplatzt war. Immerhin gefährdete es nicht nur mich, sondern auch alle um mich herum, weshalb auch Herr Ascher immer davon abriet. Dr. Ascher war mein Psychologe und um nicht daran erinnert zu werden das was in meinem Kopf nicht in Ordnung war, war er für mich einfach nur Herr Ascher. Beide Seiten hatten damit kein Problem.

Still auf meinem Platz in der Bahn sitzend hielt ich meine Tasche fest umschlossen. Im Grunde waren darin nur ein paar wichtige Unterlagen, das letzte Buch das ich mir ausgeliehen hatte und Mittagessen samt Wasser. Meine Augen starrten etwas leblos aus dem Fenster heraus und begutachteten die Landschaft, die an den Gleisen vorbei zischte. Im Fenster spiegelte ich mich leicht und ließ mich leise aufseufzen. "Was ist der Sinn des Lebens?" Ich war selten philosophisch, wusste ich nur zu gut, das selbst ohne meine Krankheit jeder Mensch irgendwie eingeschränkt war. Wir gingen zur Arbeit um Geld zu verdienen und die Basis hierzu war Bildung. Aber nur die wenigsten machten etwas das sie auch wirklich wollten. Es war als würde die Hälfte der Lebenszeit verschwendet sein. Vielleicht hatte ich gerade Spaß an meinem Beruf in der Bibliothek? Ein Ausgleich für die anderen Hälfte die mir durch Ray gestohlen wurde? Gott's Wege waren unergründlich. Dabei war ich nicht mal gläubig, nicht im eigentlichen Sinne. Doch ich glaubte das einen Gott gab. Auch wenn ich nicht betete, war ich der festen Überzeugung jemand lenkte das Schicksal der Menschen. Was hatte er dann für mich geplant?

Ein Ruck surrte durch den Zug und die Erde schien zu beben. Mein Blick vom Fenster abgewandt sah ich überrascht zum Eingang des Korridors im Zug. Ein grelles Licht tauchte rasend schnell alles um sich herum in sein Reich ein und verschluckte es. Mein Herz pochte kurz, doch alles ging so schnell bevor Ray gestalt annehmen konnte. Mir wurde schwarz vor Augen, als das Licht mich erreichte.


"Wo bin ich?" Mit den Augen blinzelnd befand ich mich plötzlich nicht mehr im Zug, sondern aufrecht stehend auf einer eisigen Brücke. Doch es war nicht kalt, trotz des herrschenden Windes und den schneebedeckten Gipfeln rund herum. Barfuß stand ich auf der Brücke und spürte keine Kälte, eher als stünde ich auf Glas als auf Eis. Auch meine Kleidung war komplett anders, trug ich mehr eine Art Kleid mit merkwürdigen Symbolen drauf. Die schwarze Rose in meinen Haaren stach besonders hervor, wie auch die kleinen kreuzförmigen Ohrringe. "Bin ich bewusstlos geworden und jemand hat mich umgekleidet?" Ich unterdrückte krampfhaft die Angst vor dem Unbekannten. "Es ist ruhig hier, keiner da, keine Gefahr..." Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen und begutachtete anschließend die auffälligste Attraktion in dieser neuen Umgebung: Ein gewaltiger Schädel.

Erleichtert atmete ich auf als das Haus endlich hinter mir lag, die Tür ins Schloss gefallen. Jeder andere wäre wohl froh gewesen im beengten Shanghai hier zu leben, einem Apartmentkomplex gutverdienender Unternehmer, alle mit eigenem Gartenanteil und Annehmlichkeiten die manches Hotel nicht hatte. Aber hier war auch meine Familie, voller Vorwürfe und anmaßender Blicke, kein Moment Ruhe solange ich nichts produktives machte. Was selten der Fall war, wusste ich doch noch gar nicht was ich im Leben machen wollte – wie könnte ich auch, wenn ich nie machen durfte was ich wollte.
Also verschwand ich wieder. Raus, aus meinem Zimmer, dem Apartment, dem Haus, dem ganzen Distrikt, zu Fuß um mich in Schwung zu bringen. Längst hatte ich feste Routen, alles was ich brauchte in einem Schließfach am Bahnhof, kleiner Rucksack mit ein bisschen Essen, Trinken, einem Messer. Damit ging es dann ins Industrieviertel, Baustellen wunderbar für Abwechslung im Parkour, irgendeine immer verlassen. Was natürlich keine Garantie für Sicherheit war, eine Maske meine Identität verschleierte – mehr damit es nicht in die Nachrichten kam als vor Angst aus Ärger. Vater war immerhin Großmogul, Mutter bekannte Literaturkritikerin. Ein plötzliches Licht riss mich aus den Gedanken und dem Klettern, erste Vermutung Scheinwerfer, irgendwelche Security...
Dann war es still. Natur-still, etwas dass in einer Megastadt niemals vorkam. Blinzelnd blickte ich mich um, Arm langsam senkend, gar nicht verstehend wie hier Berge sein konnten. Nicht mal annähernd chinesisch sahen sie aus, eher Richtung Himalaya. Und auch ich war in anderen Klamotten, leichter und deutlich freizügiger, versehen mit Verzierungen die dubios phosphorierten. Und da stand ein Mädchen knapp vor mir, genauso auf den Schädel starrend.

Ein leichtes Knacken durchdrang die Stille dieses Ortes. Es war leise und an jedem anderen Ort hätte ich es wohl überhört. Doch hier, wo meine Nerven auf Anspannung waren, achteten meine Ohren auf jedes Detail. Ich drehte mich um, rausgerissen aus meinem Fokus zum großen Schädel. Da stand ein Junge, eingehüllt in merkwürdigen Gewändern, was ihn leicht mystisch wirken ließ. Seine stechend blauen Augen waren im Zusammenhang mit der Maskierung ein wenig unheimlich. Mein Herz setzte kurz aus und meine violetten Augen flackerten kurz in einem rötlichen Schein. "N-nein nicht jetzt..." Die Angst vor Ray machte das Gefühl nur umso stärker, ehe plötzlich meine Augen sich komplett in ein Blutrot färbten.

Interessiert schaute Ray sich um. Ihre Gesichtszüge waren weniger leblos als meine und wenn man ihr genau in die Augen schaute, würde man das Gefühl verspüren in die Augen eines Raubtieres zu starren. Sie betrachtete kurz neugierig die neue Umgebung, ehe sich ein verschmilztes Lächeln auf ihren Lippen zauberte. "Nette Aufmachung. Sind wir hier beim Karneval?", schmunzelte Ray und legte den Kopf provokativ schief. Es war eine ihrer vielen Eigenschaften die ich hasste. Sie sprach immer aus was sie dachte, gleich was für Konsequenzen es hatte.

Das meine natürlich braunen Augen sich in ein stechendes blau passend zu den Kleidungsverzierungen geändert hatten konnte ich verständlicherweise nicht sehen – die Änderung bei dem Mädchen aber gut, runzelte die Stirn. Mussten ziemlich fancy Kontaktlinsen sein die sie da hatte. Generell seltsam, alles hier. „Musst du grad sagen.“ entgegnete ich nur trocken, lief sie immerhin in einem Kleid auf einem Berg herum. Meins war... wenigstens halbwegs bedeckend, hatte ich es selbst nicht gewählt. Viel mehr Beachtung schenkte ich ihr auch nicht, trat einen Schritt vor um die Brücke genauer zu betrachten. Ein Trigger wie es schien, sprach der Schädel uns doch plötzlich an: „Wollt ihr eine neue Zukunft? Dann tretet ein – oder kehrt um. Wählt weise! Ihr bekommt diese Chance nur einmal.“ Na dass klang ja überhaupt nicht dubios.

Dem Jungen ein wissendes Lächeln schenkend, beachtete ihn Ray nicht weiter. Auch wenn ich sie stets für Streitlustig hielt, das war eher aus meiner Sicht. In Wirklichkeit war Ray intelligent genug um sich nicht einfach mit jeden zu fetzen, besonders wenn jemand auf ihre merkwürdige Art nicht feindselig reagierte. Drum schlenderte sie ihm hinterher, die Hände in die Taschen gestopft. Als der Schädel plötzlich zu sprechen anfing, hüpfte Ray vor Erheiterung. "Woah! Ein sprechender Steinschädel!", gluckste sie erfreut. "Neue Zukunft? Klar warum nicht? Kann nicht beschissener sein als die alte Zukunft!" Sie nahm wirklich kein Blatt vor dem Mund und bevor sie sich wieder dem Jungen wittmen konnte, kam dort plötzlich ein gleißendes Licht und umhüllte ihren Körper. "Cool~" Und mit eine "Puff" waren Ray und ich verschwunden.

Blinzelnd kam ich wieder zur Besinnung. Die Rote Augen waren wieder dem Violett gewichen und innerlich war ich dankbar das Ray's peinlicher Auftritt endlich vorbei war. Verschnaufend bemerkte ich das ich auf weichen Untergrund lag. Es war Gras. Eine gewaltige Wiese baute sich vor meinen Augen auf. Dort waren Wälder in einiger Entfernung und weit weit weg gab es sogar Umrisse von Gebirgen. "Europäisches Klima. Aber? Wo zur Hölle bin ich?" Die Umgebung kam mir nicht bekannt vor und generell, gab es auf der Erde noch solch unberührte Flecken? Besonders in Europa. Etwas hilflos stand ich auf und versuchte mich weiter umzuschauen.

Ich hätte ja doch etwas mehr Details gewünscht, aber letzten Endes musste ich dem Mädchen zustimmen – schlimmer konnte es nicht werden. Anstelle einer ausgesprochenen Antwort ging ich weiter auf die Brücke, blickte dem Schädel direkt entgegen, bis auch mich das Licht erneut verschluckte.
Und auf einer Wiese wieder ausspuckte, neben dem Mädchen mit nun wieder violetten Augen. Mit großen Augen schaute ich mich um, begeistert von all dieser Landschaft. „Das ist definitiv nicht mehr Shanghai!“ was nur für diese Zukunft sprach. Zwischen all den Gebäuden hatte ich mich nie wohlgefühlt, während hier ein Gefühl von Freiheit war, der Kick dem ich immer nachgelaufen war. Noch nicht genug, aber ein Anfang. Das hier könnte etwas werden.

Den Jungen quasi neben mir erblickend, erschrack ich diesmal nicht mehr und bot somit Ray keine Chance mein Handeln zu übernehmen. "Sorry für eben.", bemerkte ich recht schüchtern klingend. Mir war es immer unangenehm Ray's Chaos aufzuräumen. Im Gegensatz zu ihr waren meine Augen nun recht kühl, fast leblos, als würde der Junge mit einem ganz anderen Menschen reden. "Shanghai?", murmelte ich überrascht. Wieso sollten wir in Shanghai sein? Aber die Berge sahen auch nicht wie die Alpen aus. Waren wir überhaupt noch auf der Erde? Als Mystikerin und Gläubige kannte ich natürlich viele Romane über Personen die in andere Welten reisten. Aber sowas war doch noch Fiction? Ein frischer Wind wehte mein Kleidchen etwas mit sich herum und erinnerte mich daran das die Temperatur zurück war. Anders als noch vorhin beim großen Schädel. Es war jedoch mild, lediglich der Wind war etwas kühler. Fragend schaute ich den Jungen an, vielleicht wusste er ja mehr, auch wenn er mir etwas verwirrt herüber kam. Immerhin redete er von Shanghai...

Die Entschuldigung wurde durchaus irritiert entgegengenommen. „Wofür?“ Konnte ja nicht ahnen, dass sie mehr als eine Person war. Differenzen im Verhalten und Ausdruck waren mir nur zu bekannt, etwas das ich selbst oft genug anwandte um meine Ruhe zu haben. Und bei der Umgebung hatte ich ganz anderes anzusehen, hörte ihre Frage gar nicht. Ich saß auch noch völlig verblüfft im Gras, Blick umherwandernd. Um mich wehte der seltsam geschnittene Schal mit Kapuze sacht im Wind, völlig vergessen das mein Gesicht noch verschleiert war. Was jetzt? Mir hatte vorher noch keiner je die Chance gelassen einfach zu tun was ich wollte – wo sollte ich anfangen? Wohin gehen?

"N-nichts.", murmelte ich nach kurzem Überlegen. Konnte ihm ja kaum sagen das ich an einer Persönlichkeitsstöhrung litt und dass das Mädchen das er eben kennengelernt hatte gar nicht ich war. Es gab nur recht wenige Menschen die positiv darauf reagierten, statt mich zu ignorieren oder wie eine Verrückte anzuschauen. Ich bemerkte wie er immer noch etwas verwirrt war. Ihm ging es also sicher wie mir. Wenn man davon aus ging das er nicht verrückt war, dann kam er aus Shanghai. Nur warum sprachen wir die selbe Sprache? War er dort im Urlaub oder auf Geschäftsreise gewesen? Aber es brachte wohl nichts jetzt darüber nachzugrübeln. Plötzlich roch ich etwas und drehte mich in eine bestimmte Richtung. In der Ferne stieg Rauch auf. "Feuer. Ein Schornstein?", wies ich den Jungen darauf hin das es in der Ferne qualmte. Ehrlich gesagt war ich ganz froh in diesem Moment nicht alleine zu sein, denn auch wenn ich ihn nicht kannte, die Tatsache das wir in der selben Situation waren raubte mir ein wenig die Unsicherheit...und die Möglichkeit von Ray übernommen zu werden.

Ich tat es gelassen ab, dass sie selber nicht wusste wofür die Entschuldigung war. Spielte doch keine Rolle. Erst ihre nächsten Worte rissen mich aus der Verwunderung, wand mich in die angedeutete Richtung. Wie sie das entdeckt hatte war mir schleierhaft, aber ich kam auch aus einem Umfeld wo Luftverschmutzung als Wetter durchging. „Uh, wollen wir dahin oder...?“ Leicht deutete ich auf ein Stück Wald, die endlose Steppe, den Himmel über uns. Letzteres instinktiv und mit etwas nachträglicher Irritation, hatten wir doch keinerlei Möglichkeit einfach nach oben zu gehen. Vorläufig dachte ich noch gar nicht so weit dass wir irgendwann eine Unterkunft bräuchten, Essen. Erschien zu viel wie ein Traum, etwas das nicht lange halten würde.

Aufmerksam hörte ich ihm zu und folgte dann seinem Finger wie er auf die unterschiedlichen Richtungen deutete. Als er in den Himmel zeigte folgte mein Blick, nur um ihn dann leicht verwirrt anzusehen. Doch ich sagte nichts, behielt die Gedanken für mich und schaute dann wieder in Richtung des Rauches. "Kennst du essbare Pflanzen? Kannst du jagen?", fragte ich ihn etwas merkwürdig dabei klingend und deutete dann auf den Rauch. "Vielleicht wissen die wo wir sind." Dann zeigte ich etwas langsam auf das Gebirge hinter uns. "Keine Alpen." Meine Sätze waren kurz, als würde mir entweder zwischendrin die Luft ausgehen oder ich wäre einfach zu schüchtern um viel zu reden. In Wirklichkeit war es eher das Gegenteil. Ich war selbstbewusst genug, nur hatte ich Angst. Emotionen wurden oft durch Worte übertragen. Mit ein Grund warum ich Drama Bücher mied und mir vor jedem Roman die Rezensionen genau durchlas. So verpasste ich zwar die besten Stücke, aber es war mir immer noch lieber als von Ray beherrscht zu werden.

Gebürtiges Stadtkind mit Geld wäre mir nie in den Sinn gekommen mein Essen zu suchen, nicht bis es absolut notwendig war und ich mich erinnerte dass Camping, Outdoor Erfahrung und Survival Training nicht nur Adrenalinlastiger Zeitvertreib war. Wahrscheinlich wäre es doch ganz gut zu wissen wo wir hier waren, nickte ich leicht. „Keine Stadt.“ fügte ich hinzu. Shanghai konnte man nicht übersehen, nicht mal von sehr weit weg. Ihre komische Sprechweise nahm ich einfach hin, hatte doch jeder seine Macken. Weiteres Vorgehen entschlossen stand ich auf, zog endlich die Maske runter. „Ich bin Bo.“ stellte ich mich vor, leichte Verneigung antrainierter Reflex. Die Handschuhe ließ ich an – das Oberteil hatte keine langen Ärmel wie meine sonst und da waren ein paar Narben die ich lieber nicht zeigen wollte.

Nickend als Zustimmung das ich auch keine Stadt in der Umgebung sah, bändigte ich vorsichtig meine Haare. Der Wind ließ sie in regelmäßigen Abständen wie wild durch die Luft flattern. Er zog seine Maske herunter und wirkte damit gleich viel freundlicher. Sein Verbeugen irritierte mich etwas, doch um nicht unhöflich zu wirken machte ich einen leichten Knicks vor ihm, das Kleidchen dabei leicht anhebend. Auch wenn ich nicht oft Kleider trug, meine Mum hatte mir viel über sowas beigebracht. "Celine.", stellte ich mich knapp vor und merkte mir seinen Namen, Bo. "Die Andere heißt Ray.", fügte ich noch hinzu, dachte das es wichtig wäre, wenn wir ohnehin zusammen die Ursache des Rauches aufdecken würde. Angst machen wollte ich ihm damit keine, eher im Gegenteil. Ohne aber viel mehr dazu erklären, außer wenn er mich fragen würde, machte ich mich auf den Weg in Richtung des Rauches, das Gras zwischen meinen Zehenspitzen spürend.

Meinerseits war der Knicks irritierend, tat jedoch auch das ab. Besser allemal als Händeschütteln und falsche Höflichkeit. Fragend blickte ich Celine an zwecks „Ray“, sprach aber nichts an. So selbstverständlich wie sie es erwähnte würde es etwas sein was sich von allein aufklärte. Ich folgte ihr, leicht mithaltend und mich weiter über diese Klamotten wundernd – der Stoff schwebte nahezu im Wind, war aber zu leicht um beschwert zu sein. Die Schuhe waren seltsam geschnitten, Sohle gestreckt wie ich es sonst nur von speziellen Kletterequipment kannte, dennoch weich wie Socken. Alles saß perfekt, wie für mich gemacht, fühlte sich aber um Längen besser an als jedes maßgeschneiderte Designerhemd in das ich gezwungen worden war.

Den unebenen Boden unter meinen Füßen ignorierend, ging ich unbeirrt auf den Rauch zu. Hinter einigen Bäumen offenbarte sich schließlich ein Haus. Es war schlicht gestaltet und wirkte wie ein klassisches altes Bauernhaus. Nicht weit vom Haus war eine kleine Herde Kühe eingezäunt am grasen. Doch die Herde war so klein, dass bestimmt kein Bauer damit gewinn machte. Die Felder etwas weiter entfernt wirkten teils friedlich, teils komplett ruiniert, als wäre eine Horde wildgewordener Kinder durch das Feld gelaufen. Der Feldweg war kaum zu erkennen und einige Zäune schienen beschädigt zu sein. Lediglich das Haus und eine angrenzende Scheune waren komplett heile. Dafür waren mit Farbe seltsame Symbole an den Wänden gemalt worden. "Graffiti?" Mein Blick wanderte zu Bo, sah er mir eher wie jemand aus, der sich mit sowas auskannte. Ein Auto schien es wohl aber nicht zu geben und auch sonst was auf eine moderne Zivilisation hinweisen würde.

Ganz zielstrebig folgte ich ihr dann doch nicht, schlenderte immer mal wieder abseits um die Landschaft zu betrachten, ehe ich mit flotten Schritten wieder aufschloss. Für mich war alles hier so unnatürlich, dass ich hysterisch kichern wollte – aber wer weiß was Celine von mir gedacht hätte. Nachdenklich musterte ich die Zeichnung auf dem Haus, schüttelte dann aber leicht den Kopf. „Nichts was ich je gesehen habe. Völlig falscher Platz, wer soll dass denn hier sehen?“ Was mir aber auffiel... ich hielt meinen Arm leicht hoch, verglich das Muster auf dem Handschuh mit dem Graffiti. Ein paar einzelne Symbole stimmten überein. Merkwürdig.

Ich nickte verständlich. Graffiti war da um Aufmerksamkeit zu generieren, glaubte ich zumindest. Und hier war nun wirklich niemand. Aber was war es dann? Mein Blick fiel wieder auf Bo und ohne groß zu überlegen, bemerkte ich wie er die Zeichen auf seinen Klamotten mit dem des Hauses vergleich. Ihm näherkommend starrte ich über seine Schulter und verglich sie selbst, ebenfalls bemerkend das sie verdächtig ähnlich waren. "Eine Art Zeichensprache?" Meine Kenntnisse in Sprachen halfen mir hier und ich konnte einen leichten Zusammenhang erkennen, auch wenn ich nicht wusste was die Zeichen bedeuten sollten. Den Gedanken vorerst verwerfend da uns kein Material zur Übersetzung hier zur Verfügung stand, näherte ich mich dem Haus umsichtig. Das Eck umlaufend sah ich plötzlich am Haupteingang einen Wippstuhl wo eine ältere Damen gerade saß und an einem Stück Stoff zu stricken schien. Meine Augen fixierten sich auf den Vorgang, als wäre ich hypnotisiert und stand einfach nur wie angewurzelt da, ohne wirklich zu wissen warum. Das Verlangen sie zu unterbrechen oder anzusprechen bestand irgendwie nicht, wusste ja auch nicht ob sie unsere Sprache sprach oder wie sie auf zwei Fremde in dieser Gegend reagieren würde.

Das sie mir so nahe kam war unangenehm, wobei ich mir nicht viel anmerken ließ, dadurch erst realisierte dass ich ein Stück kleiner war als sie – asiatisch eben, auch wenn man jetzt nicht viel davon bemerkte, Haare ein Stich zu weit ins rötliche, stechend blaue Augen ablenkend von der Mandelform. „Jedenfalls nicht Kanji. Oder japanisch, koreanisch oder eine andere asiatische...“ Lesen und sprechen konnte ich die beileib nicht, doch wenn man in der Mitte davon aufwuchs bekam man mit wie es auszusehen hatte. Ich machte mir nicht weiter einen Gedanken darum. Vielleicht waren es ja einfach nur lokal typische Verzierungen? Anders als Celine erstarrte ich nicht weil in einem offensichtlich bewohnten Haus ein Bewohner war, setzte ein Lächeln auf und verbeugte mich leicht. „Entschuldigt unser Eindringen, Großmutter, aber wir haben unseren Weg verloren. Könntet ihr uns sagen wo dieses Haus sich befindet?“ Mit dem Ellbogen stieß ich Celine an, damit sie sich wenigstens vorstellte.

Bo löste mich schließlich recht fix ab und ich war dankbar in dieser Situation nicht alleine zu sein. Ich war wirklich nicht gut mit sozialen Interaktionen. Mich wunderte etwas als er mich mit dem Ellbogen anstieß, nahm es als Erinnerung hin etwas höflicher zu sein und machte einen leichten Knicks vor der älteren Dame, die nun von ihrem Stuhl aufschaute. Sie schien etwas überrascht zu sein zwei neue Gesichter zu sehen, doch dann schob sich ein leichtes Lächeln in ihr Gesicht. Doch als ihr Blick auf Bo und die Runen an seinen Gewändern fiel, erstarrte ihr Lächeln und sie verbeugte sich rasch "Eure Exzellenz, ich bin geehrt euch hier in meinem bescheidenen Heim willkommen heißen zu können." Sie wirkte überaus höflich, ehe sie in Richtung des Hauses rief: "Breda! Komm schnell. Wir haben Gäste vom Zirkel der Magier!" Ich legte währenddessen etwas den Kopf schief, tippte leicht die Schulter von Bo an und flüsterte leicht: "Verheimlichst du etwas vor mir?". Immerhin war ich mir nicht mehr sicher was ich glauben sollte. Zirkel der Magier? War Bo einer der mysteriösen Trickzauberer die in verschiedenen Spielshows auftraten?

Meine Mimik fror ein bei der gehobenen Ansprache, hielt ich mich nur zusammen und nickte leicht weil es hier nützlich wäre. Gefallen tat mir das sicher nicht, hatte ich all dem doch entkommen wollen. Wieso steckte mich der Berg dann in Kleidung, die anscheinend jedem zeigten ich wäre jemand wichtiges? „Nein. Keine Ahnung wovon die redet.“ zischte ich zu Celine, spielte aber mit. „Mein Name ist Boreas Sun.“ Nordwind's Sonne – ich wusste bis heute nicht was meine Mutter sich dabei gedacht hatte, wurde es doch von jedem mit Englischkenntnissen amüsiert aufgefasst. Deswegen nutzte ich 'Bo', aber das klang in diesem Kontext eben nicht professionell genug. „Wir wollen keine Umstände bereiten. Wenn ihr uns einfach den Weg zur nächst größeren Siedlung beschreiben könntet...?“

Ich nickte, vertraute ihm irgendwie in der Hinsicht. Vielleicht lag es an den merkwürdigen Symbolen seiner Kleidung? Schließlich waren die so ähnlich. Seinen Namen merkte ich mir jedenfalls, auch wenn ich "Bo" ebenfalls lieber hatte. Schließlich hatte er mir auch angeboten ihn so zu nennen. "Natürlich, Natürlich, eure Exzellenz. Das nächste Dorf von hier aus ist zehn Meilen in Richtung Gebirge. Folgt einfach dem Feldweg hier, ihr könnt es gar nicht verfehlen.", beschrieb die ältere Damen, die mich scheinbar komplett ignorierte. Nun ich sah auch mehr wie eine leblose Puppe aus und in dem Kleid würde ich wohl auch einfach als Bedienstete durchgehen können. "M-meine Tochter Breda kann euch begleiten wenn ihr wollt, eure Exzellenz. Oder akzeptiert zumindest unsere kleine Gabe an Speisen und Getränken." In dem Moment kam bereits eine jüngere Frau, schätzungsweise mitte zwanzig, aus dem Haus und begutachtete mit begeisterten Augen Bo, als wäre er eine berühmte Persönlichkeit. Sie machte einen Knicks zur Begrüßung. "Hallo eure Exzellenz."

Prinzipiell wäre ich sofort gegangen, machte mir eher Gedanken ob Celine das ohne Schuhe überstehen würde. Aber das wäre dann zu unhöflich. Wenigstens schien sie uns zu glauben dass wir uns schlicht verlaufen hatten, nicht zu ahnen wie neu alles war. Vom Dorf würden wir weiter sehen. „Bitte, nennt mich Bo.“ Noch mehr 'Exzellenz' würde ich nicht aushalten. „Das ist meine Begleitung, Lady Celine Ray.“ Wenn sie darauf bestand dass da noch jemand war stellte ich eben beide vor. „Natürlich freuen wir uns über solch nette Gesellschaft, aber bitte, nur wenn ihr Berda entbehren könnt. Sicher gibt es hier viel zu tun?“ Eine Informationsquelle wäre gut, doch ich war zwiegespalten, lieber allein. Aber ich wäre auch gar nicht erst in Richtung des Rauchs gelaufen.

Ein unwohles Gefühl breitete sich in mir aus und ich blickte zu Boden "Weiss...Celine Weiss.", murmelte ich leise genug das es im besten Fall nur Bo mitbekam. "Nicht Ray. Niemals." Etwas niedergeschlagen tappste ich sanft auf die andere Seite um mich vom Gespräch zu distanzieren. Meine Augen flackerten leicht rötlich, doch als ich spürte wie mir die Kontrolle entglitt, riss ich mich so gut es ging zusammen und verhinderte knapp eine Katastrophe. Die alte Dame war etwas hin und her gerissen. Natürlich wollte sie dem Magier gefallen und möglicherweise hätte ihre Tochter endlich die Chance einen einflussreichen Mann kennenzulernen, aber heute auf das Mädchen zu verzichten wäre wirklich eine Belastung für den kleinen Hof. "Mr. Sun ist natürlich jederzeit bei uns Willkommen. Hier, hier, nehmt, es ist das mindeste an Gastfreundschaft das ich euch anbieten kann." Sie hielt ihm einen Korb hin mit verschiedenen Früchten, etwas Käse und Brot. Sicher war es ihr heutiges Frühstück oder Mittagessen. Und obwohl die Familie relativ arm zu sein schien, versuchten sie Bo zu gefallen. Ich schüttelte innerlich den Kopf, in was für einer Welt waren wir hier gelandet?

Celine warf ich bei der Korrektur nur einen kurzen genervten Blick zu, hatte sie sich immerhin nicht besonders deutlich ausgedrückt wer, wo und wann Ray war. Dürfte für zusehende mehr wirken als tadelte ich eine Gehilfin dafür außer Reihe zu sprechen. „Habt Dank für euer Willkommen.“ Wieder verbeugte ich mich leicht. Den Korb konnten sie sicher selber besser gebrauchen, also setzte ich meinen Kapuzenschal ab und funktionierte ihn kurzerhand in einen Tragebeutel um, Handgriffe geübt als hätte ich das immer schon gemacht. Das an meinem Rücken im Oberteil zwei Streifen von den Schulterblättern abwärts ausgespart waren bekam ich gar nicht mit. Vorräte schulternd lächelte ich ein letztes Mal die beiden Frauen an und wand mich dann entlang des beschriebene Weges, still bis wir außer Sichtweite waren, meine Maske fiel in eine Mischung aus genervt und amüsiert. „Schöne neue Welt...“ murmelte ich mehr zu mir. „Hält mich für das gleiche wie jeder andere sonst auch.“

Anders als der Junge verabschiedete ich mich nicht wirklich höflich, sondern folgte ihm einfach nur, dabei darauf achtend auf dem Mittelstreifen des Feldweges zu laufen, da die kleinen Steinchen auf dem Weg stark an meinen weichen Fußsohlen schmerzten. Barfuß zu laufen war ich gar nicht gewöhnt. Als wir endlich außer Reichweite waren, spürte ich in den Worten von Bo eine gewisse...Traurigkeit? Es war schwierig Emotionen anderer Menschen zu lesen. Stattdessen fielen mir die beiden Streifen auf seinem Rücken auf. Meine Hände waren kühl, als sie saft über die Streifen strichen. "Narben?", murmelte ich und nahm rasch die Hände weg, bemerkend das mein Verhalten unhöflich war. "Sorry." Aus dem was er gesagt hatte wurde ich jedenfalls nicht direkt schlau, allerdings, ich wusste nicht warum, aber ich fühlte mich genauso: "Du hast recht." Für mich war es normal ignoriert zu werden, erwartete auch gar keine Antwort, sprach einfach nur weil mir danach war.